- Literaturnobelpreis 1974: Eyvind Johnson — Harry Edmund Martinson
- Literaturnobelpreis 1974: Eyvind Johnson — Harry Edmund MartinsonDer Schwede Johnson wurde für seine im Dienst der Freiheit stehende Erzählkunst, sein Landsmann Martinson für »ein Werk, das den Tautropfen einfängt und das Weltall spiegelt«, geehrt.BiografienEyvind Johnson, * Svartbjörnsbyn (Norrbotten) 29. 7. 1900, ✝ Stockholm 25. 8. 1976; 1914 Aufbruch von zu Hause, Arbeit in verschiedenen Berufen, 1921 Übersiedelung nach Berlin, später nach Paris, 1930 Rückkehr nach Schweden, 1957 Aufnahme in die Schwedische Akademie.Harry Martinson, * 6. 5. 1904 Jämshög (Blekinge), ✝ Stockholm 12. 2. 1978; ab 1912 als Gemeindekind bei verschiedenen Bauernfamilien, 1917 Vagabundieren durch Schweden, Gelegenheitsarbeiten, 1920-27 Seefahrt, 1939 Teilnahme am finnisch-russischen Krieg, 1949 Aufnahme in die Schwedische Akademie.Würdigung der preisgekrönten LeistungUnmittelbar nach der Preisverleihung gab es heftigste Diskussionen, die sich nicht nur um die literarische Qualität drehten, sondern auch darum, ob es gerechtfertig sei, zwei Mitgliedern der Schwedischen Akademie, die ja die Zusammensetzung des Nobelpreiskomitees bestimmte, den Preis zuzuerkennen. Außerdem sei Schweden mit nun insgesamt sechs Nobelpreisträgern für Literatur überrepräsentiert. Dass aber diese beiden Autodidakten der Schwedischen Akademie überhaupt angehörten (Martinson seit 1949, Johnson seit 1957), war ein bemerkenswertes Faktum. Beide entstammten nämlich proletarischen Verhältnissen und verkörperten in der Literaturgeschichte die so genannte Arbeiterliteratur.Literat im Dienst der FreiheitDer im nördlichsten Schweden geborene Eyvind Johnson kam bereits als Vierjähriger zu Pflegeeltern, als 13-Jähriger verließ er die Dorfschule — seine einzige Ausbildung, der Rest (und der war sehr beträchtlich) war Selbststudium. Früh schloss er sich der Arbeiterbewegung an, rechnete sich wohl zu deren linkem Flügel, glaubte an die Revolution und forderte die Emanzipation des Proletariats; doch frühzeitig finden sich bei ihm auch schon Züge von Zweifel und Resignation — diese Doppelheit wird sein ganzes Schaffen durchziehen. In den 1920er-Jahren reist er durch Europa und landet schließlich 1925 in Paris. Seine ersten Romane fallen in das Ende der 1920er-Jahre, die Helden sind Outsider, ziellose, passive Zweifler, und als Johnson sich um 1930 neu orientiert, nennt er seinen Roman des Jahres bezeichnenderweise »Avsked till Hamlet« (schwedisch; Abschied von Hamlet). Die neue Richtung zielte auf sozialkritische Teilnahme. Deutlich wird dies in seinem vierbändigen Romanzyklus über Olof, »Hier hast du dein Leben«, 1934-1937. Dies ist keine Autobiografie, auch wenn die Romane deutlich erkennbare Parallelen zum Leben des Autors aufweisen: Der junge Olof verlässt 1914 seine Pflegeeltern, durchläuft verschiedene Stationen, tritt der Gewerkschaft bei, zimmert sich nach und nach seine Vorstellungen einer guten, gerechten Gesellschaft zurecht und träumt von der Revolution — ein Pubertätsroman, ein Entwicklungsroman. Im Zeichen des immer stärker werdenden Faschismus tritt Johnson kämpferisch für die Demokratie ein, beispielsweise in den Romanen »Nattövning« (schwedisch; Nachtübung, 1938) und »Soldatens Återkomst« (schwedisch; Die Wiederkehr des Soldaten, 1940). In der Krilon-Trilogie (1941-43), einer Mischung aus Realismus, Allegorie, Fantasie und Symbolismus) reagiert er ebenfalls auf den Faschismus und geißelt die schwedische Neutralitätspolitik. Nach dem Krieg nimmt sein Schaffen wieder eine neue Wende, und zwar die zum historischen Roman. Wenn er in »Die Heimkehr des Odysseus« (1946) Teile von Homers Odyssee neu und raffiniert erzählt, wenn er sich in »Träume von Rosen und Feuer« (1949) in das Frankreich des 17. Jahrhunderts begibt, wenn er in »Wolken über Metapont« (1957) in zwei parallelen Handlungen die Gegenwart mit der Zeit des vierten vorchristlichen Jahrhunderts in Griechenland kontrastiert und wenn er in »Eine große Zeit« (1960) die Zeit Karls des Großen aufruft, dann tut er dies nicht aus historisierender Nostalgie, sondern er will einen Kommentar zur Gegenwart liefern. Wenn auch dieser Abschnitt seines Werkes kontemplativer geworden ist, so vertritt er in jedem Werk die Ideale der Toleranz, der Freiheit und der Humanität, und deshalb wurde er »für eine in alle Länder und Zeiten weitsehende Erzählkunst im Dienste der Freiheit« mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Dazu war er durch seine Übersetzungen von Camus und Sartre zum Vermittler französischer Literatur nach Schweden geworden — aus einem Proletariersohn war ein europäischer Intellektueller geworden.Als »Arbeiterschriftsteller« in der Schwedischen AkademieEine durchaus vergleichbare Laufbahn hatte Harry Martinson erlebt. Früh von der Mutter verlassen, wuchs er als armes Gemeindekind im südlichen Schweden auf. Als 15-Jähriger zog er durch Schweden und anderen Ländern Skandinaviens, musterte bald an und fuhr sechs Jahre zur See. Sein literarisches Debut war die Gedichtsammlung »Spökskepp« (schwedisch; Spukschiff), dem zwei Jahre später die Sammlung »Nomad« (schwedisch; Nomade) folgte. Stichworte zu ihrer Beschreibung sind die Preisung der Natur, der Kult des Lebens und der Triebe, Mystik und Sexualromantik; die Gedichte sind im Kontext der Begeisterung für Sigmund Freud und D. H. Lawrence zu lesen. In dieser Zeit ist Martinson auch vom Kommunismus begeistert, von dem er sich jedoch 1934 distanziert, als er in Moskau den Stalinismus erlebt. Die beiden Bände mit Reiseerzählungen »Reisen ohne Ziel« (1932) und »Kap Farväl!« (schwedisch; Kap Lebwohl, 1933), in denen er viel von seinen Erlebnissen verarbeitet, trugen — neben seiner Lyrik — zu seinem großen Ruhm und seiner außerordentlichen Beliebtheit bei. Die Schilderungen, eine Mischung von Novellen und Erlebnisberichten, sind geprägt von einem reichen Assoziationsstrom und getragen von philosophischem Ernst, seine ungewöhnlich reiche Sprache stellt ihn an die Seite des anderen schwedischen Spracherneuerers, August Strindberg. Seine Prosahauptwerke sind die beiden Romane »Die Nesseln blühen« (1935) und »Der Weg hinaus« (1936). Wie Eyvind Johnson griff Martinson auf eigene Erfahrungen zurück, dennoch sind diese beiden Romane keine Autobiografien, sondern eine Studie über eine schwere Kindheit, vielleich ein Bildungsroman. Bald wandte er sich neuen Themen zu. In den Naturschilderungen »Midsommardalen« (schwedisch; Das Mittsommertal, 1938) verbindet er Makrokosmos und Mikrokosmos, wie dies auch in der Begründung für die Preisverleihung zum Ausdruck kommt: Er wurde ausgezeichnet »für ein Werk, das den Tautropfen einfängt und das Weltall spiegelt«.Am finnisch-russischen Winterkrieg nahm er auf finnischer Seite teil. Als ein weiteres Hauptwerk darf sein Roman »Der Weg nach Glockenreich« (1948) gelten, in dem er seinen »Nomadismus« begründete. Sein Vagabund Bolle zieht die Ungebundenheit des Landstreichers der Sicherheit des Sesshaften vor und träumt den Traum von Freiheit. 1949 wurde Martinson als erster »Arbeiterschriftsteller« in die Schwedische Akademie aufgenommen. Zu einer Zeit, als niemand mehr an die Möglichkeit der Gattung Epos glaubte, schrieb er 1956 das Epos »Aniara« in 103 Gesängen. Das Raumschiff Aniara ist mit mehreren tausend Emigranten auf dem Weg zum Mars, um der Gefahr zu entgehen, die der atomverstrahlten Erde droht. Doch es gerät aus der Bahn und tritt eine nicht endende Reise ohne Ziel in der Unendlichkeit des Raumes an. Das symbolhafte, hilflose Taumeln der Menschen im Raum ist paradigmatisch auch für die Situation heute. Gekränkt durch die Kritik an der Verleihung des Nobelpreises veröffentlichte Martinson nach 1974 nichts mehr. 1978 schied er freiwillig aus dem Leben.H. Uecker
Universal-Lexikon. 2012.